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Das Zeitalter der Arbeitsbeschaffung

 

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Photo by Clark Young on Unsplash

Die Frage lautet nicht „wird uns die Arbeit ausgehen?“, sondern „was fange ich mit meinem Leben an, bei dem bereits gegenwärtig die Arbeit ausgegangen ist?“

Ich lebe in einem Land, wo Arbeit „geschaffen“ wird. Das sollen die Unternehmen tun: Arbeit schaffen. Fordern zumindest die Politiker. Dass dies aber bereits längst der Fall und „Arbeit“ eine Konstruktion ist, eine geistige Einbildung, das sehe ich so.

Wir leben längst in einer gigantischen Arbeitsbeschaffungswelt.

Wir haben in meinem Land mehrheitlich Berufe, die mit Kopfarbeit zu tun haben und die wir mittlerweile unter Zuhilfenahme der Technik ausüben. Die Berufe, die unter den Arbeitsbegriff fallen, haben damit zu tun, etwas zu finden, das ersetzen soll, was in meiner Republik niemand mehr macht: Sich selbst versorgen, mit Nahrung und Obdach.

Seit wir keine Selbstversorger mehr sind, geht uns die Arbeit aus und wir erschaffen daher permanent neue. 

Der Begriff „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ war eine Zeitlang populär, wird aber nicht mehr genutzt. Vermutlich, weil es zu offensichtlich ist, dass diese nur der Beschaffung von Arbeit dient, aber im Grunde sinnlos und häufig sogar schädlich ist. Heute spricht man daher kurz nur noch von „Maßnahme“ – gemeint ist aber natürlich noch immer die Arbeitsbeschaffung.

Arbeitsplätze: das sind Orte, die wir physisch aufsuchen, um etwas zum Tun zu haben. 

Die Unternehmen produzieren und erschaffen Waren und Dienste, die einen Ersatz für das Materielle (biologische Ernährung) und Intellektuelle (geistige Nahrung) sind. Die Materie für die Massenproduktion entnimmt das Unternehmen dem Planeten, von dem es die Materie kostenlos erhält. Jedenfalls so lange es sich in den eigenen Grenzen aufhält. Etwa die Ressourcen, die es für die Gewinnung von Stahl benötigt hat. Dort, wo das Unternehmen die planetarische Ressource nicht umsonst bekommt – über die eigene Grenze hinaus – geht es mit den Regierungen oder Landeigentümern einen Handel ein, bezahlt also dafür, sich der Materie zu bemächtigen.

Da wir in meinem Land kaum noch nennenswerte Materie vorfinden, weil die Menschen sich auf seiner Oberfläche befinden oder der Raum anderweitig besetzt ist (technische und biologische Strukturen unterbrochen von Verkehrswegen), verlagerte sich die Produktion und Großindustrie ins Ausland, wo es mehr Materie und weniger bevölkerte Gebiete und dafür mehr Bauern gibt. Für uns hier blieb übrig, neue Arbeit zu erschaffen. Mit welcher Selbstverständlichkeit heute niemand mehr Bauer werden will, hat vermutlich damit zu tun, dass wir die Geschichte immer aus der Sicht der Nichtbauern überliefert bekommen.

Tendenziell halten wir nichts vom Bäuerlichen, umso mehr vom Bürgerlichen und neuerdings vom Wissens- und Weltenbürger. 

Das Bäuerliche wird und wurde verachtet, weil es – so das Vorurteil – nicht viel Intelligenz braucht, um Lebensmittel zu erschaffen. Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Als Wissensbürger verstehen wir davon aber sehr wenig, weil „Bauer sein“ mit körperlicher Arbeit assoziiert und die reine körperliche Tätigkeit mit Dummheit gleich gesetzt wird.

Trotzdem beharren wir aber auf guten Lebensmitteln. Wir beharren so sehr auf gesunde Lebensmittel, dass wir das Bio-Siegel erschaffen haben.

Nun leben wir mit der „Bio“-Illusion.

Aber natürlich ist  – wie wir leben und wo wir leben – auf der Illusion von Arbeit aufgebaut. Konsequent wäre, wenn ich nicht von einer „Arbeit“, sondern von einem „Einkommen“ spreche. Die Frage müsste darum auch nicht lauten: „Was machst du beruflich?“, sondern „was machst du, um ein Einkommen zu haben?“

Ich lebe anscheinend in einem Land, in dem die Menschen damit einverstanden zu sein scheinen, dass ein Einkommensplatz etwas Gutes ist. Wir sollten dann aber die Sprache der Realität anpassen.

Es sollte nicht „Arbeitslosigkeit“ heißen, sondern „Einkommenslosigkeit“.

Jedenfalls haben alle unfassbar viel Zeit gewonnen dadurch, dass sie sich selbst nicht mehr versorgen. Dies wird so angenommen und scheint eine Art Allgemeinwissen zu sein, weil die Bauern wohl an die zwanzig Stunden pro Tag dafür gearbeitet haben, dass andere etwas zu Essen bekamen. Ob dies nun so undifferenziert so stehen bleiben darf, wage ich zu bezweifeln. Machen Sie die Differenzierung bitte selbst.

Zeitgewinn scheint demnach etwas Begehrenswertes zu sein. Aber auch das ist eine Illusion.

In Wahrheit wollen wir keine Zeit, sondern Sinn gewinnen.

Weshalb sonst wollen alle im „Feierabend“ etwas Schönes machen? Da wir aber in der Fremdversorgung wenig Sinnhaftes finden, gibt es entweder ein Hobby, welches den Körper glücklich macht oder eines, welches den Geist beflügelt. Glücklich, wer die Kombination aus Beidem möglich macht. Nach der „Arbeit“ – oder besser gesagt, nachdem wir unseren Einkommensplatz für ein bestimmtes Stundenkontingent besetzt haben – möchten wir uns wohlfühlen. Doch das Wohlfühlen ist nicht das Nichtstun, auch wenn viele behaupten, dass die meisten anderen „nichts tun“ wollen würden oder das sogar von sich selbst annehmen. Nichtstun: das ist nicht mit Müßiggang zu verwechseln, bei dem ein Mensch sich inspirieren lässt; entweder durch sein eigenes geistiges träges Umherschweifen und sich dem Ergeben in die Langeweile oder aber durch das Anschauen dessen, was ihm Inspiration verschafft.

Vor dem Schlafengehen haben wir alle noch mindestens Zeit für einen Film oder drei Folgen unserer Lieblingsserie.

Es wird gesagt, die Menschen, die vierzig Stunden plus arbeiten und dann noch die Wegezeiten abziehen, haben keine Zeit mehr für ein anderes Leben, keine Zeit, sich mit alternativen Konzepten auseinanderzusetzen. Das ist natürlich Unsinn. Die Zeit wäre schon vorhanden – allein, wenn man den abendlichen Film oder die Serie weglässt – nur nicht die Energie. Wenn ich nach nur zehn Stunden eines Tages so erschöpft bin, dass die restlichen 14 Stunden dafür verwendet werden müssen, um mich zu entschädigen und zu erholen, dann stimmt natürlich etwas nicht.

Genauso ist es, wenn Menschen einkommenslos sind. Die Suche nach einem neuen Einkommen ist derartig erschöpfend und kraftraubend, dass plötzlich die viele freie Zeit bedrohlich wirkt. Die fehlende Identität mit einem Einkommensplatz und die psychologische Abwertung ohne ein solches Einkommen, die beängstigende Selbstbestimmung über die Tagesstruktur: Ein Riesenthema. Hieran erkennen wir, dass wir nicht nur fremdversorgt werden sondern auch fremdstrukturiert.

Die Tagesstruktur selbst zu bestimmen: Das ist nicht unbedingt ein Problem, wenn ein Einkommensplatz vorhanden ist, doch sobald der wegfällt, tut sich ein großes Loch auf.

Glücklich der, der auch ohne Arbeitsplatz-Einkommen und ohne fremde Struktur nicht verrückt oder eingeschüchtert wird. 

Ohne eigenes Einkommen, abhängig vom Einkommenslosengeld (ELG I oder ELG II) seine Tage sinnvoll zu verbringen und dabei die Freunde und die Familie nicht zu belügen: ein mutiges Kunststück. Ein lohnendes Experiment, würde ich meinen. Ein aussagefähiger Selbsttest.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen befürworten ist schwierig, wenn man es nicht selbst mal probiert hat: ohne sich um die Fremdeinwirkung der anderen zu kümmern einfach eine Weile einkommenslos zu sein und sich damit zufrieden zu fühlen. Also so zu tun, als würde das ELG I oder II bereits bedingungslos sein.

Ich war in meinem Leben häufiger ohne Einkommensplatz.

In dieser Zeit fühlte ich mich befreit wie befangen gleichermaßen. Mich um einen neuen Einkommensplatz zu bemühen, beschwerte mich und setzte auf der anderen Seite schöpferische Kraft frei. Ich experimentierte mit Bewerbungsanschreiben, präsentierte mich bei Personaldienstleistern und erfreute mich an Ergebnissen, die mich keinem Schema zuordnen ließen. Es machte mir Freude, mit Sprache und Anreden zu experimentieren, die künftigen „Arbeitgeber“ mit denselben Methoden und Strategien zu behandeln, wie sie es für sich beanspruchten und zu schauen: Wie reagiere ich und wie reagieren die anderen darauf? Ich testete mich danach, ob ich gerade das sage, von dem ich denke, dass der andere es hören will oder ob ich den Mut habe, authentisch zu bleiben und gleichzeitig die Diplomatie nicht zu verletzen. Ich bewarb mich auf Stellen und stellte mich auch dort vor, wo ich nicht wirklich zu arbeiten gedachte: um zu sehen, ob man mir einen Einkommensplatz anbieten würde oder nicht.

Die Zeit ohne Einkommen war für mich noch in jeder Hinsicht die lehrreichste.

Ich hatte mit meinen Ängsten zu tun, damit, mich zu fragen wie lange ich optimistisch bleiben würde oder wie lange die Zeit ohne Einkommen gehen müsste, bevor ich zermürbt wäre? Ein Teil von mir begrüßte das Experiment, der andere fürchtete sich, abzusteigen, weniger Wert zu sein als noch vorher, zu der Zeit, als ich einen Einkommensplatz besaß.

Was sagt dies über mich? Vielleicht – um beim Thema dieses Artikels zu bleiben – dass ich weiß, dass es um Arbeitsbeschaffung gegangen ist. Und ich das nicht immer so ernst nehmen will. Weil ich mich nicht selbst versorge, fehlt es mir in der Tat manchmal, diese vielen Arbeitsbeschaffungen ernst zu nehmen. Dabei handeln und denken viele im tödlichen Ernst. Wenn ich allein an die Begriffe „Wettbewerb“ und „Wirtschafts-Ranking“ denke, daran, „welchen Platz Deutschland auf der Welt einnimmt, um seinen Wohlstand zu erhalten“. Die Leute sind zum Teil so wahnsinnig mit der Beschaffung von Sinn in ihren Einkommensplätzen bemüht, dass sie sich leider nicht auf lokale Angelegenheiten beschränken – was ihnen zweifelsfrei besser anstünde – und sich stattdessen auf „Entwicklungs- und Schwellenländer“ konzentrieren:

Saurons ruheloses Auge lässt grüßen.  

Dabei sind die Entwicklungsländer psychologisch betrachtet unsere Projektionsfläche, da wir uns nicht gerne im Spiegel ansehen und sagen: „Verdammt, mein Einkommensplatz ist sinn- und wertlos. Womit ich mein Geld verdiene, das braucht kein Mensch.“ Denn tatsächlich ist es so: Nichts von dem, was wir in Massen produzieren lassen und kaufen, braucht irgendwer wirklich. Es ist Arbeitsbeschaffung, um überhaupt etwas zum Tun zu haben. Wer immer noch glaubt, die meisten Menschen würden am liebsten den ganzen Tag nichts tun, hat was ganz Wesentliches nicht begriffen: Das ist eben genau das nicht, was Menschen machen und wollen.

Wir hier als Fremdversorgte suchen fiebrig, ruhelos, pausenlos nach etwas zum Tun. 

Wir sind süchtig nach Arbeit. Ohne Arbeit sterben wir. Das glauben Sie nicht? Ist aber so. Ohne eine Tätigkeit, bei der wir mit anderen Menschen zu tun haben, gehen wir ein. Stellen Sie sich dazu das Extrem vor: Sie sind isoliert von anderen, dürfen nicht einen Ort aufsuchen, an dem man etwas zusammen produziert oder verkauft oder ausdenkt. Das macht Sie kaputt auf lange Sicht. Ich kenne Menschen, die sich aufgrund fehlender Arbeit einfach selbst welche beschaffen. Die ist dann zwar nicht bezahlt, aber darauf kommt es den Leuten überhaupt nicht an. Es geht um das Tun. Sie legen sich mit anderen Leuten vor Gericht an. Oder auch wahlweise mit den Behörden selbst. Sie schreiben Briefe, sie überdenken einzelne Begegnungen immer und immer wieder, weil sie etwas brauchen, mit dem sie sich befassen wollen. Sie analysieren sich und ihre Mitwelt.

Ob im Gesunden oder im Krankhaften: Das Tun steht an erster Stelle. Und wenn es auch ein Tun im Sinn von rein geistiger Befassung mit Theorien oder Medien ist. Ohne dies kann ein Mensch nicht sein. Wir sind Arbeitsbeschaffer. Unser negatives Spannungsfeld befindet sich zwischen den zwei Extremen „manischer Aktionismus“ und „erschöpfter Fatalismus“.

Doch wirklich etwas tun: Tun wir nicht.

Wir sind gegenwärtig Nichtstuer. Sie und ich, wir sind Fremdversorgte. Die Angst, dass wenn wir ein Grundeinkommen hätten, niemand mehr arbeiten ginge: dies liegt nicht in der Zukunft; nein, es ist JETZT eine Tatsache. Im Hier und Heute. Wie könnten wir auch nur eine solche Annahme treffen, wenn wir nicht schon gegenwärtig der Überzeugung anhingen, dass die Welt voller Nichtstuer ist? Und tatsächlich: Niemand von uns muss noch mit seiner Hände Arbeit seine Nahrung anbauen und sich ein Dach überm Kopf zimmern. Wir arbeiten aus dem einen Grund, dass wir eine Identität erhalten.

Als ich noch eine PR-Fachfrau war, arbeitete ich, weil ich es begehrenswert fand, in der Medienszene zu arbeiten. Ich arbeitete des Status Quo wegen, des Ansehens, der Zugehörigkeit wegen, der Kontakte wegen, des Geldes wegen. Mir war die ganze Zeit klar, dass niemand meine Arbeit wirklich brauchte. Sie war zu nichts nütze, außer, mir etwas zum Tun zu geben. Das ist aber das Kaliber, um das es geht. Die Arbeit war meine geistige Konstruktion, meine Rechtfertigung dafür, dass ich etwas zum Tun benötigte. Das Geld war für mich eigentlich ein Nebenprodukt, natürlich habe ich nichts dagegen gehabt, davon reichlich zu erhalten, es war jedoch nicht mein Hauptmotiv.

Wäre ich Unternehmer oder Produzent – beispielsweise von Staubsaugern – dann würde ich mich fragen:

Wie kann ich ein so super Gerät entwickeln, dass es ein Leben lang hält, kaum Wartung und Reparatur benötigt und an seinem Lebensende als Recyclingobjekt dient?

Mein Motiv wäre auch hier das Interesse an einer Sache. Ich würde so lange über dem Prototypen tüfteln, bis ich mit dem Ergebnis mehr als zufrieden wäre. Dann würde ich diesen Staubsauger verkaufen, weil Menschen ihn mir abkaufen wollen würden. Wenn die Nachfrage befriedigt wäre, dann wäre ich natürlich wieder „arbeitslos“. Aber darum geht es doch! Weshalb soll ich, wenn ich das perfekte Produkt entwickelt habe – noch daran festhalten wollen? Will ich Spaß haben an meinem Tun oder soll es nur darum gehen, möglichst lange meine Einkommensquelle abzusichern? Wäre ich ein Produzent, würde ich in Produkte investieren, die den besten Nutzen haben. Es wäre mir ein Vergnügen, eine Zahnbürste zu entwickeln, die nie wieder weggeschmissen werden bräuchte und wenn doch, dann müsste aus dem „Abfall“ etwas Neues entstehen. Ich würde in technische Kreisläufe investieren.

Da ich aber kein Produzent bin sondern soziale Arbeit mache, ist mein Denkansatz:

Mache dich überflüssig.

Was die Menschen durch mich an Hilfestellung erhalten, sollen sie künftig selbst können. Wenn ich feststelle, dass die manchmal sehr lästige Gewohnheit durchkommt, meinen Selbsterhalt an die oberste Stelle zu setzen, dann verzeihe ich mir das damit, dass wir noch kein bedingungsloses Grundeinkommen haben und ich daher gezwungen bin, nicht meine Klienten oder Termine in dem Ausmaß loszuwerden als dass ich dann ohne mein Einkommen dastehe.

Wenn ich es so betrachte: kommt es mir sehr übertrieben vor, wie sich unser Gesundheitssystem aufbläht. Und überhaupt alles aufgebläht hat, weil wir den Selbsterhalt über alles stellen.

Wir brauchen die Kranken und Verrückten, damit wir als Ärzte, Psychologen, Therapeuten und Berater arbeiten können.

Wir brauchen die Ungebildeten und Armen – aus den Entwicklungs- und Schwellenländern – damit wir als Helfer, Lehrer und Entwickler tätig sein können. Wir brauchen die Ausgebeuteten und Benachteiligten, um immer wieder neue Gruppen und Interessen „gerecht vertreten“ zu können. Tatsächlich gibt uns das Leben dort Sinn, wo wir es mit dem Leid und der Not anderer zu tun bekommen. Und es hat eine große Anerkennung. „Ärzte ohne Grenzen“ oder andere Organisationen, die sich für Menschen oder Tiere einsetzen, Sozialarbeiter, die auf der Straße worken, Altenpfleger, Krankenschwestern, Gewerkschafter, Sozialverbändler und so weiter. In den oberen Rängen sind es die Professoren, Institutsleiter, Wissenschaftler und Forscher, die sich der „Störungsbilder“ und den „Ökonomischen und ökologischen Notlagen“ annehmen. Sie alle schöpfen daraus ihre Identität. Sie alle glauben an diese Art der Arbeitsbeschaffung. Oder würden Sie sagen: „Mein Ziel ist, dass meine Dienste immer weniger gebraucht werden dadurch, dass die Menschen sich selbst befähigen, zu können, was ich kann und was andere können.“

Wir haben das Defizit dazu auserkoren, uns Arbeit zu beschaffen.

Im Erschaffen von Problemen und dem Blick auf Defizite suchen wir das Tätigsein. Das Gesunde, das Starke und das heil Gebliebene ist aber viel besser geeignet, um sich zu beschäftigen. Doch wo wir das Massenhafte brauchen, um massenhaft mit Arbeit versorgt zu sein, kann der Blick nicht auf das gute Potenzial, auf die starke und unverwüstliche Ressource gerichtet sein. Wir brauchen derzeit für unser System die Masse: Massenhaft leidende Menschen in Verbindung mit massenhaft produzierter Materie.

Und umgekehrt: Wenn wir unsere Talente und Potenziale zur Reife brächten, uns überhaupt nicht mehr um den Erhalt von Einkommensplätzen bemühten? Was würde dies aus mir machen? Wie wäre ich dann gestrickt? Ich hätte wahrscheinlich ein paar Anfangsschwierigkeiten mit dieser Form von Freiheit. Ich täte nichts lieber, als mein Wissen zu teilen – dafür würde ich ungerne Geld nehmen, viel lieber nähme ich etwas anderes dafür: mich in eine Gemeinschaft aufgenommen zu sehen, die mein Talent gebrauchen kann und davon profitieren möchte. Das bringt mich zu der Frage:

Wie gut bin ich schon heute in meinem Beruf?

Kommen die Leute zu mir, weil ich ihnen hilfreich bin, weil ich ihnen angemessen diene?

Ich weiß nicht, wie ein Grundeinkommen die Haltung und die Handlung meiner Mitmenschen beeinflussen würde. Was ich weiß, ist, dass es viele gibt, die eine ähnliche Haltung zum Menschsein haben wie ich. Ein Grundeinkommen wäre nicht „die Lösung für die gegenwärtigen Probleme“ – es wäre wie bei den Kindern, denen man neben ihrem Schülerdasein auch noch zutraut, sich eigenständig zu entwickeln, ohne, dass ihnen dauernd gesagt wird, was sie zu tun und zu lassen haben. Es kann schon sein, dass manchem so viel Freiheit zu schaffen macht. Es kann genauso sein, dass mancher unverhofften Mut findet. Doch wer will darüber bestimmen? Ich jedenfalls nicht. Mir sind es schon jetzt zu viele Bestimmer, die herumlaufen und sich gegenseitig Vorschriften machen.

Für mich ist ein Grundeinkommen ein Trittbrett,

eine Möglichkeit, über es hinauszuwachsen und sich ein Zusammenleben und eine Gemeinschaft vorzustellen, die nicht an Selbstverachtung und Überheblichkeit leidet sondern sich darüber klar werden kann, dass Veränderung zum Wohle aller immer die Entscheidung in sich birgt, das Beste oder Schlechteste in sich zum Vorschein bringen zu können.

Ich betreibe diesen Blog nun seit vielen Jahren – als ich damals begann, mich mit der Thematik zu befassen, ahnte ich noch nicht, dass es mich verändern würde. Ich versuchte und versuche seither, Zusammenhänge zu begreifen, Begriffe und Gewohnheiten zu untersuchen, die meine eigene Definition und Betrachtung erfordern. Mein Selbststudium dehnte sich in alle möglichen Bereiche aus und ich kam an den Punkt, an dem ich mir sagte: Dein Wissen und deine Definitionen, deine Erfahrungen und Interpretationen helfen dir nur, wenn du sie auf ein Fundament stellst, das sich „Ethik“ nennt. Sich theoretisch mit Ethik zu befassen, gibt einem ein gutes Gefühl, man ist verbunden mit dem, was „richtig“ ist. Ich zerbrach mir den Kopf, tüftelte über dem Verstehen der Aussagen vieler Denker. Aber das ist schöne Theorie und bleibt so, wenn ich nicht den Mut habe, die Werte, von denen ich genau weiß, dass ich sie befolgen sollte und von meinen Mitmenschen dasselbe erhoffe und sogar fordere, selbst lebe und mich nach ihnen richte.

Ob das Grundeinkommen eine Initialzündung zu dieser Form von Auseinandersetzung war, kann ich nicht wirklich beantworten, dafür sind mein Dasein und meine Erfahrungen zu komplex und viele Faktoren mochten eine Rolle spielen. Doch der Gedanke „Wie will ich leben?“ ließ mich seither nicht los.

Eigentlich hatte ich geplant, zum Thema „Arbeitsbeschaffung“ eine Kritik in Richtung Automation zu schreiben, denn anders als viele Befürworter dies betrachten, sehe ich die Entwicklung in Richtung Künstliche Intelligenz und Maschinenarbeit mit großer Skepsis und auch einer Form von Verärgerung, die ich mir damit erkläre, dass die technologischen Heilsversprechen so leicht geglaubt werden. Da ist eine Verführung am Werk, die ich noch näher untersuchen will.